Eva-Maria Schön – Kartenzeit

Ausstellungsdauer: 30.03.2008 – 27.04.2008


Kartographische Affairen.

Zu den Arbeiten von Eva-Maria Schön

»In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reiches, die die Größe des Reiches besaß und sich mit ihm in jedem Punkte deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es sonst keinen Überrest der geographischen Lehrwissenschaften.«

Die schillernde und doch lakonische Miniatur von Borges, die einen erfunden Wissenschaftler zitiert, trifft ins Zentrum der Frage nach der Repräsentation: der absurde Versuch, alles verzeichen zu wollen, läßt die Wissenschaft und die Kunst kollabieren, weil ja gerade das Wesentliche außer acht gelassen wird: die Interpretation der Wirklichkeit. Das Modell einer Sache wird bei Borges’ fanatisch-strengen Kartographen zur Sache selbst und damit nur ein schnöder Abklatsch: Die vollkommene Erfassung der Welt versinkt in Bedeutungslosigkeit, weil es diese Welt ja schon gibt.

Karten sind eine komplexe Angelegenheit. Sie sind Porträts der Welt, aber natürlich müssen sie Dinge verschweigen, verkleinern, was in der Weite des Raums existiert. Sie wählen aus, verfälschen, ignorieren die sorglose Exzentrität der Natur, sind Zeugnisse der Welteroberung und Orientierungshilfe im Labyrinth der Welt wie Kristallisationen des Wunsches nach einer durchschaubaren Welt. Sie sind Bildsymbole mit Doppelcharakter, als relationsgetreues Schema der Erdoberfläche und als abstraktes Abbild einer nie geschauten Wirklichkeit siedeln sie im Zwischenraum zwischen Bild und Zeichen.

Eva-Maria Schöns Kartenwerke umspielen souverän und subversiv die vielfachen Facetten der kartographischen Darstellung und damit die Frage nach der Veranschaulichung überhaupt.

Ganz frei schaltet sie dabei mit Weltbildern und dies auf verschiedenen Ebenen. Sehr direkt werden mitunter die Umrisszeichnungen eines Kontinents übernommen, dann aber im Akt der Umsetzung zu einem Anderen und die kognitiven Karten, die Welten, die wir alle im Kopf haben, geraten in Bewegung. In dichter Fingermalerei, großzügig und fast im all over werden nun Grenzen überschritten, Höhen eingeebnet, Flüsse übersprungen, konventionelle Signaturen übergangen, eigenwillig werden Perspektiven und Blickwinkel auf den Kopf gestellt. Im bewegten und beweglichen hingetupften, auf das Papier geriebenen Gestus wird jeweils eine neue Karte hervorgetrieben, die unsere vorgefassten Vorstellungen gleichsam skelettiert und das Gerüst oder die Bodenkrume der Erde bloßlegt. Erdteile können dabei auch neu zusammengesetzt werden, wobei dann ikonische Perspektiven vollends ins Schleudern geraten. Es ist, als ob in Eva-Maria Schöns Erörterungen das Bildschaffen noch einmal beleuchtet wird, das immer unabwägbare Verhältnis von Realem und Fiktivem gewinnt durch die Einbildungen der Künstlerin ein ganz frische Plastizität. Ähnlichkeit und Differenz, Modell und Original werden in neuen poetischen Sinn gesetzt, das Terrain des Karthographen wird neu vermessen in der zeichnerischen Navigation durch unsere Atlanten. Dem Weltende nähern sich die großen Blätter zu Arktis und Antarktis, und einigermaßen nonchalant ist alles da, was wir mit diesen Weltenrändern verknüpfen: das große Unbekannte und seine Entdeckergeschichten, da ist die Leere, da sind die vom Packeis als einer graublauen, gezackten Linie versperrten Passagen und die elementaren Erfahrung der Gegensätzlichkeit sich bedingender und ergänzender Prinzipien, die unser Weltgefüge ordnen: Polarität und Identität – Einheit als Himmelsgegenden, Gegensatz als Pole, wobei „der Nordpol sein Anderes am Südpol hat und das führt zur wahrhaften Betrachtung an ihm selbst, was sein Anderes ist.“

Auch im Gitter- oder Aderwerk von Eva-Maria Schöns Stadtplänen – Berlin, Peking – geschieht dieses paradoxe Wiedersehen mit der Fremde, ein Oszillieren zwischen der Möglichkeit zur Einordnung und der überraschenden Begegnung mit dem Anderen im Kern jeder Zuordnung selbst – und gerade diese Lücke charakterisiert doch auch das ambivalente Territorium der Großstadt – und jenes der Kunst.

Neben den Bearbeitungen/bildlichen Übertragungen von solchen Karten-Vorwürfen, die ihrerseits ja ebenso bereits gefiltertes Dokument sind, wobei dann listig der ganze Prozess umgedreht wird, stehen die frei erfundenen Formationen der gefährlichen Inseln, farbig, üppig, mit riskanten Kontrasten, und so als ob lautes Papageien-Gekreisch sie erfüllte.

Eva-Maria Schöns Kartenwerke sind Experimente mit dem Konkreten und poetische Erfindung von neuen Bildern: Die uralte (pathologische) Sehnsucht, den Raum zu zähmen, die Grenzen der Wirklichkeit abzustecken, wird zugleich aufgegriffen und unterminiert. Ihre Weltenbilder, die Potentialität und Flexibilität vereinen, die sich öffnen können, demontiert, verbunden, umgekehrt, modifiziert werden, sind Recherche der Erzeugung räumlichen Wissens und Reflektion der Lesbarbarkeit der Welt. Ihr frischer Bezug auf die in unsere Wirklichkeit eingetretenen Landkarten macht aus Realitäten Fiktionen und vice versa: Es sind rätselhafte, irritierende, lucide Kartierungen und zugleich Vexierbilder der alten Spiegelfrage: „Warum beunruhigt es uns, daß die Karte in der Karte enthalten ist und tausenundeine Nacht in tausenundeine Nacht?“

Dorothée Bauerle-Willert

Weitere Informationen: www.evamariaschoen.de


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